Politik bei Ungewissheit. Von Fritz Böhle

Anmerkungen zur Krisenbewältigung bei der Corona-Pandemie

Zuerst online veröffentlicht am 12. Juni 2020

Durch die Corona-Pandemie wird die Vorstellung, alles ist planbar und machbar, ganz erheb­lich erschüttert. Es ist überraschend und irritierend, wenn Experten dem Coronavirus attes­tie­ren, es sei unberechenbar, und namhafte Ärzte bei Erkrankung auf die bewährten Hausmittel verweisen, die – je nach eigenen Erfahrungen – bei Erkältungen helfen. Ob eine neue Welle von Ansteckungen eintritt und wann wirksame Mittel gefunden sind, ist ebenso ungewiss. „Eines kann man sagen“, so der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas in der Frankfurter Rundschau, „so viel Wissen über unser Nicht-Wissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.”

Wie ist es für die Politik möglich, trotz hoher Ungewissheit verantwortungsvoll zu entschei­den?

Auf den ersten Blick hat mit der Corona-Krise ein Wandel in der Politik stattgefunden, der teils bewundert, teils auch kritisiert wird. Doch genau besehen, bewegt sich die Krisenbewältigung in gewohnten Bahnen. Im Mittelpunkt steht die Suche nach Gewissheit und Kontrolle.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die politische Krisenbewältigung für eine Aus­nahmesituation angemessen war, auf Dauer gestellt aber selbst zum Problem und Hemmnis wird. Damit sind nicht in erster Linie Beschränkungen und deren Lockerung gemeint, sondern deren Hintergründe und die mit ihnen verbundenen Strategien. Es werden daher zu­nächst die Hintergründe der bisherigen Krisenbewältigung und ihre Folgen dargestellt, um dann einen anderen Weg für die zukünftige Politik zu umreißen.

1. Die Suche nach Gewissheit

Ein grundlegendes Merkmal der modernen westlichen Kultur besteht in der Überzeugung, alle Dinge seien im Prinzip durch Berechnung zu beherrschen – so wie dies Max Weber zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts formuliert hat. Die Erfolge der Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technik bekräftigen dies. In der neueren Entwicklung haben Big Data und künstliche Intelligenz neue Visionen einer nahezu vollständigen Durchdringung naturhafter und sozialer Lebensbereiche entstehen lassen. Ungewissheit wird dabei mit dem Etikett ‚noch’ versehen. Sie erscheint als vorübergehend und vorläufig, bis durch mehr Wissen Gewissheit entsteht. Handeln bei Ungewissheit gilt folglich als mangelhaft, wenn nicht gefährlich. In der Entscheidungstheorie bezieht sich darauf das Konzept der rationalen Entscheidung.

Rationale Entscheidung

Sie beruht auf der rationalen, verstandesmäßigen Abwägung von Zielen und Mitteln sowie der Wege, die Ziele zu erreichen. Auch die Folgen und Nebenfolgen des Handelns gilt es in dieser Wei­se zu berücksichtigen. Durch die rationale Entscheidung wird festgelegt, ob und wie prak­tisch gehandelt wird; sie findet vor dem praktischen Vollzug des Handelns statt und zielt darauf ab, dass nichts eintritt, was nicht bedacht wurde.

Doch schon bald wurde erkannt, dass eine solche rationale Entscheidung in der Praxis schwie­rig ist. Die erforderlichen Informationen sind oft nicht vollständig und es fehlt Zeit für um­fassende Analysen. So ist es gerade auch in der Politik keine Ausnahme, dass trotz Un­gewissheit entschieden und gehandelt werden muss. Teils wird hierin sogar ein wesentliches Merkmal politischen Handelns gesehen.

Dies hat jedoch nicht dazu geführt, die rationale Entscheidung in der Politik zu verwerfen. Ein Grund hierfür ist, dass hiermit nicht nur sachliche Klärungen erfolgen, sondern vor allem auch politisches Handeln als ‚richtig‘ legitimiert werden kann – im Unterschied zu interessen­politischen Kalkülen oder persönlichen Meinungen, die sehr viel leichter anfechtbar sind.

Damit auch ohne vollständige Gewissheit eine rationale Entscheidung möglich und darstellbar ist, wird sie modifiziert und praxisbezogener gehandhabt. Vor allem auf zwei Wegen wird dies versucht: durch die Orientierung an der weitestmöglichen und – je nach Situation – ausreichenden Gewissheit anstelle vollständiger Gewissheit und durch die Reduktion von Komplexität. Bei der Corona-Pandemie findet sich beides, allerdings mit einer deutlichen Verlagerung auf Letzteres.

Weitestmögliche und ausreichende Gewissheit

Um weitestmögliche Gewissheit zu erreichen, werden in der Politik schon seit Langem wissen­schaftliche Beratung und die Mobilisierung von Experten eingesetzt. Auch die mit Big Data und Systemen künstlicher Intelligenz verbundenen Hoffnungen der Informationsgewinnung und ‑ver­arbeitung beziehen sich hierauf. Bei der Corona-Krise dient hierzu die Intensivierung der medizinischen Forschung, die Auswertung statistischer Daten, die Befragung von Ex­perten. Dies ist richtig und wichtig. Zentrale Fragen über den Verlauf der Pandemie und wirksame Gegenmittel bleiben aber dennoch unbeantwortet. Teilweise entstehen neue Un­gewissheiten, wie etwa durch die Erkenntnis der Wärmeresistenz des Virus. Trotz intensiver Ausweitung von Informationen ist jedoch bis heute keine Situation entstanden, in der keine weiteren Kenntnisse über den Verlauf der Corona-Pandemie und ihre Bewältigung notwendig erscheinen – eher ist das Gegenteil der Fall. Politisches Handeln kann sich hier also kaum auf ‚ausreichende Gewissheit’ stützen. Es muss vielmehr gehandelt werden, auch wenn vieles noch nicht ausreichend geklärt erscheint. Damit kommt die Reduktion von Komplexität ins Spiel.

Die Reduktion von Komplexität

Sie nähert sich dem Ideal der rationalen Entscheidung nicht durch die Ausweitung von Infor­ma­tionen, sondern eher in umgekehrter Richtung durch Eingrenzung und gewissermaßen Vereinfachung. Dies kann sich auf zeitliche, sachliche, soziale und räumliche Gegebenheiten be­ziehen. Zeitlich kann dies bspw. durch die ‚Prozeduralisierung’ von Entscheidungen erfol­gen. Obwohl eine längerfristige Entwicklung absehbar ist, wird jeweils nur über kürzere, über­schaubare Phasen entschieden. Man ‚fährt auf Sicht’, so wie es noch vor der Corona-Krise vom Management namhafter Unternehmen angesichts der Ungewissheiten auf den Märkten zu hören war.

Die Politik bei der Corona-Krise hat sich vergleichsweise schnell hierauf eingestellt. Hierfür war es hilfreich, dass zunächst weder über die Ziele der Krisenbewältigung noch über ihre Reali­sie­rung grundlegende Differenzen bestanden. Priorität hatte die Sicherung von Menschen­leben und die Vermeidung von Ansteckungen. Dass die Politik sich hier klar und deutlich positioniert hat, war von einem nicht zu unterschätzenden Wert. Die Ansagen waren ver­gleichs­weise klar und nachvollziehbar: Vermeidung der Ansteckung und Aufrüstung des Ge­sundheitssystems. Auch der Rückzug auf eine nationalstaatliche Politik mit ihren sozialen und räumlichen Begrenzungen hat sich als hilfreich erwiesen. Ungewissheiten blieben lediglich bei  der Einschätzung  der Gefahr. Aber auch hier war man bereit, den Zahlen der Virologen zu ver­trauen, unterstützt durch dramatische Bilder in den Medien.

Die Notwendigkeit und die Erfolge dieser Politik seien hier nicht geschmälert. Sie hat durch ihre Eindeutigkeit und Konsequenz zugleich auch eine Reihe von Hilfsprogrammen möglich gemacht.

Doch auch wenn eine solche Politik notwendig und erfolgreich ist, kann sie sehr leicht von der Problemlösung in eine Problemgenerierung umschlagen und zum Hindernis werden. Dies ist der Fall, wenn das Bewusstsein dafür verloren geht, dass die Reduktion der Komplexität von Ent­scheidungen selbst eine Entscheidung ist: über das, was in bestimmten Situationen ge­wusst wird bzw. werden kann, und das, was ungewiss ist. Der Philosoph Wittgenstein empfahl bekanntlich: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.” Entsprechend gilt für die Reduktion von Komplexität: ‚Worüber man nichts weiß, soll man nicht entscheiden.’ Doch damit ändert sich nur der Blick auf die Realität, keineswegs aber die Realität selbst. Geht das Bewusstsein hierüber verloren, entsteht eine Verwechslung zwischen dem, was zur Ent­scheidungsfindung hilfreich ist, und der Realität. Die Politik ist dann zwar entscheidungs- und handlungsfähig, entfernt sich jedoch immer mehr von dem realen Geschehen. Sachverhalte, die nicht (mehr) in die gewählte Sicht passen, werden dann zur Störung, sie werden aus­ge­blen­det. In der Psychologie wird dies als ‘kognitive Dissonanz’ beschrieben.

Es besteht die Gefahr, dass sich die Politik in der Corona-Krise zunehmend in diese Richtung entwickelt; teils ist dies bereits der Fall. 

2. Von der Ausnahme zur Normalität

Am Beginn der politischen Krisenbewältigung entstand der Eindruck, es handele sich um eine Ausnahmesituation. So hat dies bspw. auch der Soziologe Armin Nassehi im „Spiegel“ be­schrieben. Dementsprechend war der Konsens bei politischen Akteuren und in der Bevölke­rung sehr hoch – so wie es bei einem in Sturm geratenen Segelschiff angesagt ist, nicht lange zu diskutieren, sondern zu handeln.

Doch schon bald zeigte sich, dass die Ausnahmesituation zur Normalität oder, wie es heißt, einer ‚neuen Normalität‘ wurde. Dies war ein bedeutsamer Wechsel in der Einschätzung der Lage. Es folgte dem jedoch kein Wechsel in der Politik, sondern eher im Gegenteil. Der Über­gang von der Beschränkung zur Lockerung ist nur oberflächlich betrachtet als ein Wandel.

Die Politik setzt weiter auf ein ‚Schritt-für-Schritt-Vorgehen‘ und verkündet, alles unter Kon­trolle zu haben. Zur Messlatte ist die Ansteckungsgefahr, die sogenannte Reproduktionsrate ge­wor­den. Die politische Diskussion konzentriert sich auf die Alternative zwischen Be­schränkung oder Lockerung, wobei Beschränkung zum Synonym für Gefahr und Lockerung zum Synonym für deren Minderung wurde.

Sicher wird auch noch vieles andere gemacht. Sehr früh schon wurden wirtschaftliche Hilfsprogramme aufgelegt und das Gesundheitssystem aufgerüstet. Doch all dies flankiert den eingeschlagenen Weg der Krisenbewältigung, modifiziert und ändert ihn aber nicht.

Mit der Strategie, alles unter Kontrolle und ‚im Griff‘ zu haben, kann Sicherheit und Vertrauen vermittelt werden. Zugleich entstehen aber auch Irritationen, wenn etwa verschiedene Wissenschaftler oder Politiker unterschiedlicher Meinung sind oder Lockerungsmaßnahmen nur zögerlich und mit nicht immer nachvollziehbaren Gründen verkündet werden. Von den hiervon Betroffenen wird dies dann mit dem Ruf nach ‚Eindeutigkeit‘ und ‚Planungssicherheit‘ beantwortet, was angesichts hoher Ungewissheit verwundert. Es ist jedoch  durchaus verständlich, wenn die Politik den Eindruck erweckt, als werde quasi generalstabsmäßig ‚Schritt für Schritt‘ ein langfristig angelegter Plan abgearbeitet. Aber dieser Eindruck trügt. 

Ausblendungen

Unübersehbar ist zunehmend, dass eine Reihe von Problemen entstanden sind und weiter ent­stehen, die in der politischen Diskussion kaum aufscheinen. Natürlich kann in einer demo­kratisch verfassten Gesellschaft über alles gesprochen werden, und mit dem Internet gibt es hierfür heute nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Doch schon die Bürger aus der ehemaligen DDR haben überrascht festgestellt, dass in der freiheitlichen Demokratie über alles gespro­chen werden kann, aber dies nicht garantiert, dass auch jemand zuhört.

In der politischen Diskussion der Krisenbewältigung sind sehr wirksame Grenzziehungen zwi­schen Problemen und Themen, die als wichtig gelten, und allem Sonstigen entstanden. Man kann dies auch als ‚Diskurs-Arenen‘ bezeichnen, wobei die Assoziation zu hohen Mauern und strikten Zugangsregeln durchaus beabsichtigt ist. Allerdings sind hier die Mauern und Zugänge kaum unmittelbar sichtbar. Sie erscheinen nicht als politisch gewollt, sondern als sachlich mit wissenschaftlicher Expertise begründet.

Schon in der Vergangenheit ist die wissenschaftliche Expertise zu einem wichtigen Ratgeber bei der Beurteilung gesellschaftlicher Problemlagen geworden. Dies ist auch bei der Corona-Krise der Fall. Doch wurde dabei die Wissenschaft ganz erheblich zurechtgestutzt. Denn hinter der Dominanz der Virologen und Epidemiologen verbirgt sich nicht nur der Rückgriff auf nur eine Wissenschaftsdisziplin, sondern auch die Reduzierung auf das Messbare und Quantifizier­bare. Nicht nur andere politische Meinungen, sondern auch andere wissenschaftliche Sicht­weisen, die sich nicht in gleicher Weise auf vermeintlich harte Zahlen stützen, werden damit in die Belanglosigkeit verwiesen. Wer sich hierfür stark macht, gerät allzu leicht in den Ver­dacht, die Krisenbewältigung zu gefährden, nach der Maxime ‚Freund oder Feind‘. Und zu­gleich haben auch die ökonomischen Hilfsprogramme den paradoxen Effekt, dass hiermit nicht nur reale Hilfe geleistet wird, sondern zugleich der Eindruck entsteht, negative Folgen der Krisenbewältigung bestehen im Wesentlichen  ‚nur‘ in monetären Verlusten.

Nur zur Illustration und eher typisierend seien einige Beispiele für die damit einhergehenden Ausblendungen genannt: psychosoziale Beeinträchtigungen durch Beschäftigungsunsicher­heit, Einbrüche in berufliche Karrieren und verstärkte Doppelbelastung durch Beruf und Familie sowie durch den Abbruch sozialer Kontakte bis hin zu Vereinsamung. Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch den Rückzug von Frauen in die Familie, durch ungleiche Ressourcen für mediale Kommunikation im Bildungsbereich und Kumulation von Risiken bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen. Umschichtungen in der Wirtschaftsstruktur durch Einbrüche und Umorientierungen bei Kunden, Wegbrechen von Lieferketten und Existenz­gefährdung von Selbstständigen und Kleinunternehmen. Aber auch der Aufstau und die Umlenkung affektiv-emotionaler Bedürfnisbefriedigung und des Gemeinschaftserlebens durch die Aufkündigung von Sport-, Vergnügungs- und Kulturveranstaltungen unterschiedli­cher Spielarten – vom Fussball über Volksfeste und Clubs bis hin zu Konzerten und Theater. Und ebenso auch sexuelle und erotische Deprivationen durch Kontaktverbote und Stilllegung subkultureller Welten, die sich am Rande der Normalität bewegen, aber bekanntlich deren Bestand garantieren.

Sicher ist es schwer, solche Folgen der Krisenbewältigung gegenüber der Rettung von Men­schen­leben abzuwägen. Doch nicht nur durch den Aufschub von Operationen und durch Todes­fälle infolge mangelnder sozialer Betreuung in Altenheimen, sondern auch durch die genannten Problemsituationen werden die Ziele der Krisenbewältigung selbst unmittelbar konterkariert. Solche Problemlagen wirken sich immer auch auf die psychisch-physische Ver­fassung und Gesundheit aus. Sie sind damit ein Risikofaktor für eine Ansteckung und sie ge­fähr­den vor allem die Widerstandsfähigkeit bei einer Erkrankung. Natürlich lässt sich auch dies alles weder exakt messen noch belegen. Doch liegen zahlreiche Untersuchungen und Erfah­rungen dazu vor, wie die Gesundheit durch Umweltbedingungen beeinträchtigt wird und die psychisch-physische Verfassung insgesamt auf Krankheitsverläufe Einfluss hat.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, wie wenig in den Arenen der politischen Krisen­bewältigung über positiv verlaufende Krankheitsfälle und die hierfür förderlichen oder hinderlichen Einflüsse (mit Ausnahme des Themas ‚Vorerkrankungen‘) berichtet und disku­tiert wird. So werden mit der Eingrenzung der wissenschaftlichen Expertise und dem Rückzug auf das Messbare und Quantifizierbare nicht nur vielfältige Folgen der Krisenbewältigung aus­geblendet, sondern ebenso auch andere Möglichkeiten der Krisenbewältigung.

Die Schein-Alternative: Beschränkung oder Lockerung

Durch die Konzentration auf Beschränkung und Lockerung ist die Krisenpolitik in eine missliche Situation geraten – wobei allerdings nicht ganz klar ist, in welcher Weise dies den verant­wort­li­chen Akteuren bewusst ist. Die Lockerung von Beschränkungen – aus welchen Gründen sie auch immer erfolgt – erscheint als Indiz für eine erfolgreiche Krisenbewältigung und Ent­war­nung. Der Ministerpräsident des Saarlandes hat dies in einer Talkshow auch explizit so for­muliert. ‚Wir können jetzt lockern, weil wir erfolgreich waren.‘ Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Es wird vor allem auch gelockert, weil der Druck, die Beschränkungen aufzuheben, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und von unterschiedlichen gesellschaft­li­chen Institutionen steigt. Der in der Ausnahmesituation vorhandene Konsens wird zuneh­mend brüchig.

So verbindet sich mit der Lockerung auch die Pflicht zur Maske und zu aufwendigen Hygiene­konzepten. Wäre die Ansteckungsgefahr gebannt, wäre dies alles kaum notwendig. Auch kann niemand voraussagen, ob eine zweite Welle droht und wie sie bewältigt werden soll. Fest steht allenfalls, dass eine nochmalige Ausnahmesituation mit all ihren Beschränkungen kaum denkbar ist.

So erscheint es auch durchaus wahrscheinlich, dass die Bedrohung durch das Coronavirus selbst bei der Entwicklung von Gegenmitteln noch zwei bis drei Jahre andauern wird. Und zu­gleich ähnelt der Kampf gegen das Coronavirus – im militärischen Jargon ausgedrückt – einem Guerillakrieg, bei dem bekanntlich generalstabsmäßige Angriffe und Verteidigungen allzu leicht ins Leere laufen. Die Gefahr ist damit nicht gebannt, sondern sie droht im Gegenteil immer wieder in neuer Weise.

 Doch was ist bzw. wäre zu tun? Genau besehen findet bereits vieles statt, doch die Politik hängt hinterher und läuft Gefahr, einen notwendigen Wechsel in der Krisenbewältigung nicht zu fördern, sondern zu behindern.

3. Ein anderer Weg – Politik mit Ungewissheit

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Politik kann und muss sich nicht um alles küm­mern und es kann auch nicht immer alles in politische Entscheidungen einfließen und be­rücksichtigt werden. Doch was zählt oder nicht zählt, kann nicht apodiktisch entschieden wer­den. Das ist allenfalls in einer zeitlich begrenzten Ausnahmesituation akzeptabel. In der Nor­malität, auch wenn es eine ‚neue Normalität‘ ist, muss es in demokratisch verfassten Gesell­schaften nicht nur erlaubt und möglich, sondern von der Politik gewollt sein, dass umfassend unterschiedliche Sichtweisen und Problemlagen in die Arenen des öffentlich-politischen Diskurses Eingang finden. Gerade bei Ungewissheit ist dies auf längere Sicht unerlässlich, an­stelle des Rückzugs auf vermeintliche Gewissheiten.

Zugleich gilt es, die Orientierung an Planung und Kontrolle zu modifizieren und sehr viel stär­ker die Betroffenen als aktive Akteure der Krisenbewältigung einzubeziehen. Nicht nur im Sin­ne der Partizipation, sondern im Sinne der Delegation und Verlagerung der Verantwortung und Kompetenz ‚nach unten‘. Hierzu zunächst kurz einige neuere Erkenntnisse zur Bewälti­gung von Ungewissheit jenseits von Planung und Kontrolle.

Situatives Handeln

Auch wenn in der Politik ‚Schritt für Schritt‘ vorgegangen wird, geschieht dies dennoch nach dem Prinzip ‚erst planen, dann handeln‘. Es gilt daher immer wieder neu zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Hierfür stehen Beratungsrunden, Abstimmungen, Befragungen von Ex­per­ten usw., bevor weitere Maßnahmen getroffen werden. Das aus der Schifffahrt entlehnte ‚Fahren auf Sicht‘ verweist allerdings darauf, dass es nicht immer möglich ist, erst zu entschei­den und dann zu handeln. Das Schiff muss – um im Bild zu bleiben – ohne Unterbrechung weiterfahren und gelenkt werden. Auch bei Naturkatastrophen oder Risiken, etwa beim Flug­verkehr, sind solche Situationen bekannt. Will man hier nicht in blinden Aktionismus oder Ohn­macht und Fatalismus verfallen, so erscheinen eingespielte Routinen hilfreich. Organisa­tionen, die auf Katastrophen und Notfälle spezialisiert sind, wie etwa die Feuerwehr, Notfall­medizin oder auch das Militär, legen daher einen besonderen Wert auf präzise festgelegte Ab­läu­fe und das Training routinisierter, quasi automatisiert ablaufender Handlungen. Doch in der neueren Forschung wurde darüber hinaus erkannt, dass zwar Routinen hilfreich sind, aber auch ein kreatives Handeln notwendig ist. Routinen müssen an die jeweils konkrete Situation flexibel angepasst, aber auch geändert und neu entwickelt werden. In der Praxis heißt es dann zumeist lapidar ‚jeder Einsatz ist anders‘. Fachkräfte mit solider Ausbildung und praktischer Erfahrung sind zu einer solchen situativen Gestaltung ihres Handelns in der Lage. Unter­su­chun­gen zur Bewältigung von Störfällen etwa bei technischen Systemen dokumentieren dies eindrucksvoll.

Es gibt also auch ein Handeln, bei dem Entscheiden und praktisches Handeln unmittelbar ver­bunden sind. In der Wissenschaft spricht man hier von einer besonderen ‚praktischen Intelli­genz‘, einem ‚sense pratique‘, wie es der Soziologe Bourdieu ausdrückt, oder einer ‚reflection in action‘ im Unterschied zu einer vorausschauenden oder nachträglichen ‚reflection on action‘. In der arbeitssoziologischen Forschung sprechen wir von einem situativen, erfah­rungs­­geleiteten Handeln. Erfahrung bezieht sich hier vor allem auf das Erfahren einer neuen, bisher unbekannten Situation. So wird auch von einem entdeckenden oder explorativen Han­deln und dem Herantasten an ein Problem und seine Lösung gesprochen. Das praktische Handeln beschränkt sich dabei nicht auf den Vollzug einer vorausgegangenen Entscheidung und es wird nicht nur geprüft, ob ein geplantes Ergebnis erreicht wurde. Praktisches Handeln dient vielmehr dazu, Wissen darüber zu erwerben, was in einer bestimmten Situation möglich und notwendig ist. Die Ziele des Handelns sind somit nicht strikt festgelegt, aber auch nicht völlig offen und beliebig. An die Stelle des Plans tritt die Absicht, durch die ein Rahmen für wün­schenswerte Ergebnisse abgesteckt wird. Hieraus lassen sich auch Konsequenzen für politisches Handeln ableiten. Hilfreich sind dabei Erkenntnisse aus der Organisations­forschung.

Von der Partizipation zur Selbstorganisation

In der Politik obliegt der praktische Vollzug von Entscheidungen und Planungen öffentlich-staatlichen Institutionen wie auch der Bevölkerung insgesamt. Allzu leicht erscheinen diese nur als Vollzugsorgane und Betroffene. Mitsprache bezieht sich, soweit vorgesehen, auf die Entscheidungsfindung und Planung; bei der praktischen Umsetzung beschränkt sie sich auf die Erfüllung politischer Vorgaben oder sie artikuliert sich als Protest- und Widerstand.

In der Organisationsforschung ist seit langem bekannt, dass Top-down-Entscheidungen, auch wenn daran verschiedene Interessengruppen beteiligt sind, nur dann erfolgreich sind, wenn sie von den betroffenen Mitarbeitern aktiv und selbstverantwortlich umgesetzt werden (eine Vielzahl gescheiterter Change-Prozesse in Unternehmen belegt dies nachdrücklich). Darüber hinaus wird neuerdings erkannt, dass Organisationen zunehmend mit dynamischen Umwelten konfrontiert sind, die sie nur begrenzt kalkulieren und kontrollieren können. Die Diagnose VUCA – volatility, uncertainty, complexity, ambiguity – und andere Zeitdiagnosen beziehen sich hierauf. In der Organisationstheorie  wie auch  in der Praxis wird es daher als notwendig erachtet, die Planung auf einen allgemeineren Rahmen zu beziehen und ansonsten auf situatives Handeln umzustellen. Das Stichwort hierfür heißt Selbstorganisation.

Auf ‚höheren‘ Ebenen des Managements ist nur sehr begrenzt  erkennbar, was in neuartigen und ungewissen Situationen ‚vor Ort’ notwendig und möglich ist. Die Mitarbeiter haben hierzu jedoch ein wertvolles Erfahrungswissen. Sie sind dann nicht mehr nur Betroffene und Aus­füh­rende, sondern vor allem Gestalter der Organisation und übernehmen Aufgaben, die traditio­nell dem Management zugeordnet sind.

Für die Politik heißt dies, dass vor allem bei Ungewissheit gesellschaftliche Institutionen und die einzelnen Bürger wichtige Instanzen sind, um allgemeine politische Vorgaben nicht nur umzusetzen und konkret auszugestalten, sondern auch zu ergänzen und eigenständige Maß­nah­men zu entwickeln.

Es braucht daher dringend Institutionen und Bürger, die sich aktiv und verantwortlich an der Be­wältigung der Corona-Pandemie beteiligen. Damit seien die vielfältigen Initiativen und das Engagement derjenigen, die bisher schon damit befasst sind, staatliche Vorgaben in die Praxis umzusetzen und auszugestalten, keineswegs geschmälert – ganz im Gegenteil. Sie sind quasi die Vorboten für das, worum es hier geht.

In dieser Sicht sind Lockerungen keine Entlassung in die Freiheit mit Auflagen, sondern viel­mehr eine Delegation der Krisenbewältigung an die Gesellschaft. Und genau besehen ist dies auch schon längst im Gange.

Schon sehr früh haben Unternehmen damit begonnen, eigenverantwortlich Schutzvorkehrun­gen und Hygienekonzepte etwa in der Produktion zu entwickeln. (Eine sehr informative Doku­men­tation war schon vor mehreren Wochen in der ARD in einem Bericht von Reinhard Weber zu sehen.) Auch Altenheime oder kulturelle Institutionen haben schon früh damit begonnen, eigenverantwortlich nach Alternativen zu bloßen Beschränkungen zu suchen. Doch was hier eher hindert als fördert, ist das Warten auf die staatliche Erlaubnis. Und so werden viele Initia­tiven gebremst, da sich die Akteure nicht sicher sind, ob und wann sie aktiv werden dürfen – viel­leicht auch in der Hoffnung, dass sie nichts tun müssen und alles so weitergeht wie bisher. Doch das ist und wäre genau das falsche Signal.

Anstelle weiteren Zögerns wäre es an der Zeit, möglichst umfassend und flächendeckend alle dazu aufzufordern, das zu tun, was letztlich auf sie zukommt: eigenständig Maßnahmen und Konzepte für die Vermeidung der Ansteckungsgefahr in ihren jeweiligen Bereichen zu entwickeln. Vielleicht werden dann beispielsweise Theateraufführungen und Konzerte in der Dauer etwas gekürzt und dafür mehrmals am Tag für ein jeweils kleineres Publikum auf­geführt.

Treffend hierfür ist die Feststellung von Detlef Esslinger in der SZ bereits am 27. März: „Wem derzeit ‚ein Plan für den Ausstieg‘ fehlt, der möge daran mitarbeiten; niemandem wird so viel einfallen wie allen zusammen.“ Dies deckt sich weder mit der bekannten politischen Mit­sprache und Beteiligung noch mit der Protestkultur. Es ähnelt eher einem zivilgesellschaft­lichen Engagement und einer ‚aktiven Gesellschaft‘, so wie sie der amerikanische Soziologe Etzioni schon in den 1970er Jahren umrissen hat. Zu ergänzen ist dies durch den Hinweis auf den hohen Wert des Wissens, das aus der Praxis für die Politik entsteht und entstehen kann. Beteiligung und Mitsprache sind dann nicht mehr nur Formen der Interessenbekundung, sie sind vor allem auch Quellen des Wissens für politisches Handeln. Medien wie das Internet und Social Media wären in dieser Weise als Informations- und Kommunikationsformen zu nutzen. Nicht primär für den Wettstreit um die Verbreitung neuester Nachrichten, deren Wahrheits­gehalt fragwürdig ist und selbst kaum beurteilt werden kann, sondern für die Verbreitung eige­ner Erfahrungen, über die man selbst verfügt und für die gebürgt werden kann. ‚Herantasten und experimentieren‘‚ so wie in der SZ Initiativen bayerischer Hoteliers beschrie­ben wurden, könnte dabei ein allgemeiner Leitsatz werden. 

Und schließlich kommt es darauf an, nicht nur Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen zu ent­wickeln, sondern den Menschen auch dabei zu helfen, die eigenen Widerstandskräfte zu stär­ken. Die Forschungen zu Salutogenese und Resilienz haben nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig bei Gesundheitsgefährdungen die physische und psychische Konstitu­tion ist. Wenn Mediziner immer wieder auf Bewegung und Sport verweisen, ist dies richtig, wäre aber zu ergänzen durch einen ganzheitlichen Ansatz, der das physische, psychische und men­ta­le Befinden insgesamt einbezieht. Unterstützungen in dem weiten Bereich gesund­heits­bezogener Dienstleistungen hätten hier eine doppelte Wirkung: einerseits Existenzsicherung der Dienstleister, andererseits Gesundheitsförderung zur Abwehr von Ansteckung und insbe­son­dere Stärkung bei einer Erkrankung. Hilfeleistungen an Unternehmen könnten mit Anrei­zen und Auflagen zur gesundheitsfördernden Arbeitsgestaltung und insbesondere Stress­vermeidung verbunden werden.

Kulturelle Initiativen und Institutionen sind in dieser Sicht nicht nur ‚nice to have‘-Erscheinun­gen, auf die man, wenn es ernster wird, verzichten kann. Das Gegenteil ist der Fall, so wie in der Geschichte von der Maus ‚Frederick‘ Leo Lionni davon erzählt, wie Fredericks Erinnerun­gen an die Sonnenstrahlen und die bunten Farben dazu beitragen, den kalten Winter zu über­stehen. Auch hier haben Hilfeleistungen eine doppelte Wirkung als Existenzsicherung und För­derung des physisch-psychischen Wohlbefindens. Es ist daher wichtig, monetäre Hilfen nicht nur als Ausgleichszahlungen für Verluste zu handhaben, sondern auch als Mittel für kreativer Initiativen in der ‚neuen Normalität‘. 

Der Politik kommt hier die Aufgabe zu, den Konsens, die Loyalität und das Engagement zu fördern, gegebenenfalls auch erst hervorzurufen. Die in demokratischen Gesellschaften ver­bürg­te Autonomie und Selbstverantwortung der Bürger ist hierfür ein wichtiges Potenzial. Zu berücksichtigen ist aber die ebenfalls in der Organisationsforschung entstandene Erkenntnis, dass sich Engagement nicht verordnen lässt. Dies ist ernst zu nehmen. Verbote und Bestrafun­gen sind nur zum Schutz gegen klar definierbare Gefahren sinnvoll. Viel wichtiger ist es, zu einem verantwortlichen Handeln gegenüber sich selbst und den anderen zu überzeugen und zu motivieren. Und die Bürger sind daran zu erinnern, dass demokratische Teilhabe sich nicht in einer individualistischen und partikularistischen Interessenverfolgung erschöpft. Es geht da­bei immer auch darum, die Gesellschaft und das Gemeinwohl insgesamt im Auge zu behalten.

Bei all dem muss die Politik neben Sachverstand und Diskussionen ein Gespür und einen Spür­sinn dafür entwickeln, was politisch machbar und zumutbar ist. Politische Maßnahmen müs­sen nachvollziehbar sein und bleiben, Appelle an die Vernünftigkeit und Loyalität sind wichtig, dürfen aber nicht zum Ersatz für Erklärungen und Begründungen sein. Dies ist bei Ungewiss­heit keine leichte Aufgabe. Ehrlichkeit und Offenheit führen hier jedoch weiter als das Ver­sprechen von Pseudogewissheiten, die bestenfalls kurzfristige Wirkungen haben und deren Entlarvung letztlich zu nachhaltigen Vertrauensverlusten führt.

Der Merkel’sche Satz ‚wir schaffen das‘ könnte damit eine neue Aktualität gewinnen. Aber nur dann, wenn ‚wir‘ dabei nicht nur als Ausführende, sondern als aktiv Beteiligte und nicht nur mit Pflichten, sondern auch mit wertvollen Erfahrungen und kreativem Potenzial wie aber auch mit Sorgen und Problemen eine Rolle spielen und als solche wahrgenommen werden.

Zum Autor

Prof. Dr. Fritz Böhle, Forschungseinheit für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg/Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München

Seit 1980 Forschungen zum Umgang mit Ungewissheit

Ausgewählte Veröffentlichungen

Fritz Böhle (2017): Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkei­ten und Ungewissheit. Wiesbaden: Springer VS

Fritz Böhle, Sigrid Busch (2012): Management von Ungewissheit. Neue Ansätze jenseits von Kon­trolle und Ohnmacht. Bielefeld: Transcript

Fritz Böhle, Sabine Pfeiffer, Nese Sevsay-Tegethoff (2004): Die Bewältigung des Unplanbaren. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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